Es ist ein Beispiel von Selbstbeschädigung

Opinion piece (Die Presse)
Simon Tilford
28 March 2017

Die Presse: Was geschieht, nachdem Großbritannien die Benachrichtigung über den EU-Austritt übergeben hat?

Simon Tilford: Die große Frage ist, welche Themen zuerst behandelt werden. Die EU hat klargemacht, dass man zuerst die finanziellen Verpflichtungen klären will. Großbritannien will das unter allen Umständen vermeiden, denn Premierministerin Theresa May hat sehr wenig Spielraum, auch nur einen Teil der 60-Milliarden-Euro-Scheidungsrechnung zu akzeptieren. Das würde eine Revolte in ihrer eigenen Partei auslösen. Während die EU-Kommission auf die Klärung der Finanzen drängt, besteht auf der britischen Seite die Gefahr, dass diese Frage zu einem Scheitern der Verhandlungen führen kann.

Sie halten es für möglich, dass es überhaupt keine sinnvollen Gespräche geben wird?

Das ist eine sehr reale Gefahr. Rechtlich ist die EU-Kommission in einer starken Position. Selbst wenn nicht alle Forderungen gerechtfertigt sein mögen, so droht Großbritannien eine sehr beachtliche Rechnung. Wir haben uns entschlossen, aus der EU auszutreten, aber wir haben zuvor sehr substanzielle Lasten übernommen, und diesen müssen wir Rechnung tragen. Kommt es zu keiner Einigung, besteht die Gefahr, dass wir ohne Vereinbarung und ohne Klärung aller anderen Fragen aus der EU austreten.

Ist es möglich, dass die Verhandlungen beginnen, ohne dass sich die beiden Seiten überhaupt auf die Tagesordnung verständigt haben?

Man muss einen Kompromiss finden. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass die Verhandlungen gleich zu Beginn scheitern. Großbritannien hat mehr zu verlieren, aber das nützt der EU auch nicht viel. Maximalpositionen helfen niemandem.

Während die EU-Kommission zuerst über Geld sprechen will, was wollen die Briten?

London will eine Klärung der Rechtslage der EU-Bürger und der Briten. Hier gibt es einiges an Unsicherheit zu beseitigen. Niemand weiß, was Großbritannien in Zukunft für Bestimmungen einführen wird. Aber es ist verblüffend zu sehen, wie führende Brexit-Anhänger immer mehr die Kosten erkennen, die Maßnahmen zur radikalen Verringerung der Einwanderung haben werden.

Die Verhandlungen beginnen also mit zwei großen Problemen, bevor man sich Themen wie den künftigen Wirtschaftsbeziehungen widmen kann?

Großbritannien will Parallelverhandlungen über das Ausscheiden aus der EU und die Neuordnung der Beziehungen, weil London nicht die Union ohne eine Vereinbarung verlassen will. Aber die EU hat wenig Absichten dazu, denn je länger eine Einigung dauert, umso schwächer wird die britische Position. Streng genommen müssen erst die Artikel-50-Verhandlungen abgeschlossen sein, bevor die künftigen Beziehungen geregelt werden können.

Was glaubt Großbritannien verhandeln zu können?

Die britische Regierung hat begonnen davon zu sprechen, die EU nach Abschluss der Artikel 50 zu verlassen ohne Abkommen über die künftigen Beziehungen. Man glaubt, damit Druck auf die EU ausüben zu können. Aber obwohl es beiden Seiten größtmöglichen Schaden zufügen würde, wäre es dennoch wesentlich schädlicher für Großbritannien. Es ist, als ob man sich eine Waffe an die Schläfe hielte und sagte: Gebt mir, was ich will, oder ich schieße.

Großbritannien ist also in einer wesentlich schwächeren Position als die EU-27?

Absolut. Aus einer EU-Perspektive ist es am wichtigsten, jede Bedrohung des Binnenmarkts abzuwehren. Wenn man den Briten Zugeständnisse macht, die es ihnen erlauben, de facto im Binnenmarkt zu bleiben, ohne Kosten tragen zu müssen, wie kann man dann andere davon abhalten, ähnliche Sonderregelungen zu verlangen?

Was sind die zentralen Themen für die Wirtschaft?

Die größte Bedrohung für Großbritannien ist die künftige Regelung für grenzüberschreitende Dienstleistungen. Das Ausscheiden aus dem Binnenmarkt bedeutet den Verlust der Passporting-Rechte für Banken. Die Finanzwirtschaft prüft derzeit, wie viel sie von ihren Aktivitäten absiedeln muss, um mit dem Verlust zurechtzukommen, und wie viel in London bleiben kann. Interessanterweise schenkt die Regierung diesem Sektor nur wenig Aufmerksamkeit. Sie kümmert sich viel mehr um die Industrie, etwa die Autohersteller. Dabei ist die unmittelbare Bedrohung durch den Brexit für den Finanzsektor größer als für die Industrie.

Es scheint, als hätte London die Geschlossenheit der EU-27 massiv unterschätzt. Erwarten Sie in den kommenden zwei Jahren Spaltungsversuche?

Dieses Risiko besteht, aber ich glaube nicht, dass derartige Versuche erfolgreich sein werden. Es ist aber möglich, dass wir während der Dauer der Verhandlungen massive Veränderungen in der europäischen Politik sehen werden. Selbst wenn Le Pen nicht die französische Präsidentschaft gewinnt, könnte etwa der Front National massiv Stimmen bei der Parlamentswahl im Juni erobern.

Gibt es irgendwo Licht am Ende des Tunnels?

Die britische Wirtschaft hat bisher wesentlich besser abgeschnitten, als die meisten Experten erwartet haben, aber die Kosten werden mittel- und langfristig kommen. Es ist sehr schwer, irgendeinen Aspekt zu sehen, bei dem der Brexit nicht ein Beispiel von Selbstbeschädigung und geopolitischem Vandalismus ist. Die Hauptlast wird auf britischer Seite liegen.

Simon Tilford is deputy director of the Centre for European Reform.