Keine Angst vor dem Gespenst Minderheitsregierung!

Opinion piece (Die Welt)
Christian Odendahl
21 November 2017

Seit die FDP die Verhandlungen über Jamaika platzen ließ, geht in Deutschland ein Gespenst um: das Gespenst der Minderheitsregierung. In Skandinavien sind solche Regierungen nicht unüblich. In Deutschland aber fürchtet man um die politische Stabilität. Doch für Deutschland und Europa wäre eine Minderheitsregierung nicht das schlechteste.

Die deutsche Verfassung sieht zu Recht keinen einfachen Weg zu Neuwahlen vor. Die Politik soll den Wähler nicht so lange an die Wahlurnen bitten dürfen, bis das Ergebnis stimmt. Eine Garantie auf ein eindeutigeres Ergebnis gibt es ohnehin nicht.

Was der deutschen Demokratie am meisten fehlt, ist eine offene, konstruktive Debatte um die richtige Politik. Der vergangene Wahlkampf hat das eindeutig gezeigt. Deutschland wurde zu lange verwaltet, nach einem vier Jahre alten Koalitionsvertrag, und nicht regiert. Eine Regierung die ihre Politik auch wirklich verteidigen und nicht nur intern aushandeln muss ist aber für die demokratische Willensbildung unerlässlich.

Eine Jamaika-Koalition wäre eine solche Regierung gewesen, da nun mit der SPD ein (etwas leichter gewordenes) Schwergewicht die Opposition angeführt hätte. Eine weitere Große Koalition wäre das, trotz Verlusten, vermutlich nicht. Sie würde zudem der inhaltlichen Erneuerung der SPD, die man sich für die deutsche Demokratie nur wünschen kann, im Wege stehen.

Stattdessen sollte die SPD nicht allein, sondern zusammen mit der FDP und den Grünen der CDU/CSU eine Minderheitsregierung antragen. Diese würde Angela Merkel kaum ablehnen können. Und sie wäre in der Lage, eine solche Regierung erfolgreich zu führen: zurückhaltende Führungsstärke, die Fähigkeit zum Kompromiss und die inhaltliche Flexibilität bringt sie mit.

Eine solche Minderheitsregierung würde die demokratische Debatte in Deutschland wiederbeleben, müsste die Regierung doch für jedes Projekt neu einen oder zwei Bündnispartner überzeugen. Doch da drei Parteien diese Minderheitsregierung stützten, wäre Merkel nicht Geisel einer Partei, sondern hätte in jedem Fall zwei Optionen: Grün und Gelb, oder Rot. 

Die Grünen, die FDP und die SPD hätten ihrerseits genug Raum für eigenständiges politisches Handeln, um ihr Profil für 2021 zu schärfen. Gleichzeitig stünden sie teilweise in der Verantwortung. Das würde das Ausmaß der gegenseitigen Blockade auf ein erträgliches Maß reduzieren. Den Grünen und der SPD, und hoffentlich auch der FDP, ist das notwendige Maß an Kooperation zuzutrauen -- zumal es nur mit SPD und Grünen auch eine Mehrheit für Merkel im Bundesrat gibt.

Bleibt die Frage nach der Stabilität in Krisenzeiten. Alle drei Parteien würden, wenn es wirklich darauf ankommt, vermutlich verantwortungsvoll handeln. Für die FDP war das zumindest in der Vergangenheit so; die SPD hat schon während der Euro-Krise unpopuläre Maßnahmen aus der Opposition mitgetragen; und die Grünen haben in den Jamaika-Verhandlungen ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft gezeigt. Wir können daher davon ausgehen, dass Merkels Regierung in Krisen eine Mehrheit hätte. 

Auch für Europa wäre eine solche Regierung positiv: zwar braucht Europa eine stabile deutsche Regierung. Aber nach auszehrenden Jahren der Krisen braucht Europa noch dringender deutsche Ideen, wie es mit Europa weitergehen soll. Emmanuel Macron hat kürzlich seine Vision skizziert. Was fehlt, ist eine Antwort aus Deutschland, auch weil Deutschland schlicht die Ideen fehlen. Mit wechselnden Mehrheiten könnte Merkel noch am ehesten die notwendigen Antworten finden, sei es zur Weiterentwicklung der Eurozone oder in der Außen- und Sicherheitspolitik. 

Jede Partei hat ihr eigenes Gespenst. Die SPD fürchtet sich vor der Großen Koalition, die FDP vor dem Verlust des Nimbus der anti-Merkel Opposition, die Grünen vor dem Image also Öko-CDU, die CSU vor der AfD und die CDU vor Neuwahlen. Vor einer von der SPD, den Grünen und der FDP unterstützten Minderheitsregierung aber sollte sich in Deutschland niemand fürchten. Sie ist in der gegenwärtigen Situation für alle die beste Wahl.