Die Zinsen sollten niedrig bleiben

Opinion piece (Der Tagesspiegel)
Christian Odendahl
03 February 2019

Nach zwei Jahren robusten Wachstums deuten alle Indikatoren darauf hin, dass sich die europäische Wirtschaft abkühlt, auch wenn sie noch nicht auf eine Rezession zusteuert.
Der zusammengesetzte Frühindikator der OECD für Europa befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit 2012. Der Einkaufsmanagerindex ist in der Eurozone und in der Weltwirtschaft für den größten Teil des Jahres 2018 gesunken. Nun hat der Internationale Währungsfonds seine Konjunkturprognose für die Eurozone und das globale Wachstum nach unten korrigiert.

Es sind hauptsächlich China und die USA, die die Abschwächung der Weltwirtschaft verursachen. Die chinesische Regierung verlagert ihr Wachstumsmodell allmählich weg von Exporten und kreditfinanzierten Investitionen hin zum inländischen Konsum. Dieser schwierige Prozess wird das Wachstum dämpfen, das allerdings für ein Land mit mittlerem Einkommen bisher bemerkenswert hoch war. Das wird auch die chinesische Nachfrage nach Importen dämpfen.

Die Trump-Regierung hat die Steuern gesenkt – ein fiskalischer Stimulus, den die US-Wirtschaft nicht gebraucht hätte. Die US-Notenbank hat daher die Zinsen weiter angehoben. Das hat die Auswirkungen der Konjunkturimpulse auf die US-Wirtschaft gedämpft und den Dollar steigen lassen. Die US-Nachfrage nach ausländischen Waren und Dienstleistungen sowie das Handelsdefizit haben sich in der Folge erhöht. Trump gab damit der Welt einen wirtschaftlichen Impuls, der inzwischen aber weitgehend ausgelaufen ist.

Lange Jahre war der Nettoexport die Quelle für Wachstum

Für die Welt ist es also eine Rückkehr zur Normalität. Für Europa jedoch sind das trotzdem schlechte Nachrichten. In den letzten fünf Jahren ist die Eurozone im Schnitt um 1,9 Prozent pro Jahr gewachsen. Die Expansion wurde hauptsächlich von einer stärkeren Inlandsnachfrage getragen, angeheizt unter anderem vom Zusammenbruch der Ölpreise, der die Realeinkommen der Verbraucher erhöhte, und durch eine weniger restriktive Fiskalpolitik sowie eine aggressivere Lockerung der Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank (EZB).

Doch in den fünf Jahren zuvor war die Eurozone dem exportorientierten Wachstumsmodell Deutschlands gefolgt: Zwischen 2008 und 2013 war der Nettoexport die einzige wirkliche Quelle für das europäische Wachstum. Infolgedessen stieg der Leistungsbilanzüberschuss der Eurozone auf mehr als vier Prozent des BIP. Eine Verlangsamung der Weltwirtschaft, insbesondere bei so wichtigen Handelspartnern wie den USA und China, wird daher Europa überproportional hart treffen.

Politisch gesehen verspricht 2019 ein schwieriges Jahr für Europa zu werden. In Frankreich ist die Zustimmung zu Präsident Emmanuel Macron auf einen Tiefstand von unter 30 Prozent gesunken, und die Protestbewegung der „Gelben Westen“ verursacht wirtschaftliche Probleme. Weitere Reformen werden für ihn schwer durchzusetzen sein, wenn sich die Wirtschaft in Europa abschwächt.

Wenn der Brexit 2019 über die Bühne geht, würde dies mit einer Konjunkturabschwächung in Europa zusammenfallen. Schon jetzt hat die britische Wirtschaft Schaden genommen, doch der wurde von robustem Wachstum in Europa kaschiert. Das würde 2019 nicht mehr der Fall sein, und ein ohnehin gespaltenes Land weiter spalten.

Deutschland steht am besten da

Deutschland wuchs auch 2018 weiter, wenn auch mit dem geringsten Tempo seit Jahren, und wurde dabei von einem starken Rückgang der Arbeitslosenzahlen getragen. Der Optimismus im deutschen verarbeitenden Gewerbe schwindet und das Wachstum der Industrieproduktion schwächt sich ab. Trotzdem steht Deutschland von allen Mitgliedern der Eurozone am besten da, um einer Konjunkturabschwächung zu begegnen. Denn die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit ist sehr niedrig und die Regierung gibt ihren Haushaltsüberschuss für Wahlversprechen aus.

Die populistische italienische Regierung konzentriert sich dagegen auf Umverteilungsmaßnahmen wie die Senkung des Rentenalters und die Einführung einer Art bedingungslosen Grundeinkommens. Sie vernachlässigt Maßnahmen, die das Wachstumspotenzial der Wirtschaft stärken könnten, wie Reformen des Justiz- und Bildungssystems und der Bürokratie. Ein Abschwung in Europa würde Italien schwer treffen. Salvini und Co. würden ihre Anti-EU- und Anti-Migranten-Rhetorik wohl noch verschärfen.

Die Wahl zum Europäischen Parlament findet im Mai 2019 statt. Populisten von links und rechts werden wahrscheinlich erfolgreicher denn je sein. Etablierte Parteien würden in Zeiten einer Konjunkturabschwächung noch weniger Stimmen gewinnen.

Europa sollte daher jetzt damit beginnen, die Konjunkturabkühlung zu bekämpfen. Erstens muss die EZB einem weiteren Rückgang der Inflation zuvorkommen. Weil sie ihr groß angelegtes Asset-Kaufprogramm bereits gestoppt hat, würde ein Neustart ihre Glaubwürdigkeit beeinträchtigen. Stattdessen sollte sich die EZB verpflichten, die Zinsen länger niedrig zu halten. Der beste Ansatz wäre die Ankündigung eines sogenannten temporären Preislevelziels. Mit solch einer Politik würde die EZB ihr Inflationsziel von „nahe, aber unter zwei Prozent Inflation pro Jahr“ ändern in „zwei Prozent Inflation im Durchschnitt der nächsten fünf Jahre“.

Die EU-Finanzpolitik ist nicht rezessionsgeeignet

Sollte die Inflation weiter unter der Zwei-Prozent-Marke bleiben, würde sich die EZB automatisch verpflichten, die künftige Geldpolitik zu lockern, um über fünf Jahre den Durchschnitt zu erreichen. Sie würde in Kauf nehmen, die Wirtschaft in Zukunft leicht zu überhitzen, um den Rückstand auf das Preislevelziel aufzuholen. Hätte die EZB so ein Ziel schon vor ein paar Jahren ausgegeben, würde niemand über baldige Zinserhöhungen sprechen: In den letzten fünf Jahren lag die Inflation im Euroraum durchschnittlich bei weniger als einem Prozent, der Rückstand auf ein Preislevelziel von zwei Prozent im Schnitt wäre gewaltig.

Zweitens sollte die Eurozone die prozyklische Ausrichtung ihrer Fiskalpolitik einräumen – und ändern. Die europäischen Vorschriften der Finanzpolitik lassen in einer Rezession nicht genügend Impulse zu und erlauben zu viele Ausgaben während eines Booms. Darüber hinaus schützen die Vorschriften die Ausgaben für Investitionen nicht, an denen in der Regel als erste bei einem Abschwung gespart wird. Zudem ist die Methode der Eurozone zur Berechnung des finanzpolitischen Limits ebenfalls prozyklisch: Temporäre Abschwünge werden teilweise als dauerhaft niedrigeres Wachstum interpretiert und so die Freiheit einer Regierung eingeschränkt, Impulse zu geben. Eine Überarbeitung der finanzpolitischen Vorschriften zum Schutz von Investitionsausgaben und eine europäische Vorschrift für stark antizyklische Fiskalpolitik würden dazu beitragen, der aktuellen Konjunktureintrübung entgegenzuwirken.

Europa sollte nicht selbstgefällig sein: Die durch die letzte Wirtschaftskrise verursachten Wunden sind nicht vollständig verheilt, während die Instrumente zur Bekämpfung der drohenden Konjunkturabschwächung begrenzt sind. Europa sollte diesen Abschwung frühzeitig und offensiv bekämpfen, um weiteren politischen Schaden vom europäischen Projekt fernzuhalten.

Der Autor ist Chefökonom am Centre for European Reform.