
Der zweite China-Schock: Wogegen sich Deutschland und Europa wappnen müssen
Die deutsche Industrie gerät unter Druck – nicht durch Innovationsrückstände, sondern durch eine strukturelle globale Verschiebung: China produziert am Bedarf vorbei, die USA schotten sich ab, und Deutschland verliert Teile seiner traditionellen Exportmärkte. Doch dieser zweite China-Schock ist kein Naturgesetz. Deutschland kann ihm begegnen.
China verzeichnete kürzlich bei Industriegütern einen Handelsüberschuss von fast zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts – mehr als die USA während des Ersten Weltkriegs, als Europa kaum exportierte. Die parallelen Entwicklungen – die Stagnation der deutschen Industrie und Chinas massive Exportoffensive – sind zwei Seiten derselben Medaille. Deutschland profitierte in der Vergangenheit vom ersten China-Schock: Vor allem der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) 2001 gab den Startschuss für einen beispiellosen Exportboom. Chinas erste Exportwelle überschwemmte die Märkte mit Produkten der Möbel-, Textil- und Elektronindustrie – also mit einfachen Konsumgütern – und nicht mit Investitionsgütern. Während Länder wie die USA unter massiven Importschocks litten und über eine Million Industriearbeitsplätze verloren, blieb Deutschland verschont – es florierte sogar. Während Chinas Wirtschaft zunächst auf niedrige Löhne und einfache Montage setzte, lieferte Deutschland die Maschinen, Anlagen und Luxusfahrzeuge, die Chinas Industrie und konsumfreudige Oberschicht nachfragten. Es entstand eine Art Komplementarität: China produzierte Masse, Deutschland Klasse. Diese Arbeitsteilung ist inzwischen Geschichte.
Chinas Industriestrategie trifft Deutschland im Kern
Chinas Regierung verfolgt stets das Ziel, importierte Hochtechnologie durch heimische Produktion zu ersetzen – etwa im Maschinenbau, in der Elektromobilität, der Luftfahrt und bei Klimatechnologien. Programme wie Made in China 2025 und Little Giants richten sich offen gegen jene Sektoren und Mittelstandsunternehmen, die das Rückgrat der deutschen Industrie bilden. Die Industriestrategie wird flankiert von großzügigen Krediten, direkten Subventionen und gezielter Exportförderung. Dieser Wandel ist nicht nur sektoral, sondern auch makroökonomisch getrieben. Seit den späten 1980er-Jahren basiert Chinas Wachstumsmodell auf chronisch niedrigem Konsum und auf der Umleitung überschüssiger Ersparnisse in staatlich gelenkte Investitionen – oft mit sinkender Kapitalrendite. Zwischen 2008 und 2018 absorbierte der Immobiliensektor diese Ersparnisse – und Chinas Exportquote sank. Doch nach dem Platzen der Immobilienblase 2021 wurde Kapital verstärkt in priorisierte Industriesektoren gelenkt – ungeachtet der fehlenden Binnennachfrage.
Private Konsumausgaben machen in China weniger als vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus – ein außergewöhnlich niedriger Wert, selbst im Vergleich zu anderen asiatischen Hochsparerstaaten. Zum Vergleich: In den USA liegt ihr Anteil bei 68 Prozent, in Deutschland und der Europäischen Union bei rund 52 Prozent. Bei stagnierendem Binnenkonsum, ausbleibender staatlicher Nachfrage und wachsender Produktionskapazität bleiben Exporte der einzige Wachstumspfad.
Heute wächst Chinas Exportvolumen erneut deutlich schneller als der Welthandel insgesamt. Aufgrund massiver Überkapazitäten herrscht in China deflationärer Druck. 2024 legten die Ausfuhren chinesischer Industriegüter mengenmäßig um über zehn Prozent zu – ein Anstieg, der weit über dem globalen Handelswachstum liegt. Gleichzeitig stagnieren Chinas Importe. Dass Chinas Exporte in Stückzahlen so stark wachsen, während der Wert pro exportierter Einheit oft sinkt, deutet auf staatlich subventionierte Überkapazitäten hin und nicht auf eine neue Welle marktgetriebener Wettbewerbsfähigkeit. Deutschlands Exporte hingegen stagnieren im selben Zeitraum.
Der nächste Schock trifft Deutschland im Kern: Chinas Industrie konkurriert nicht mehr mit US-Fabriken im Rust Belt, der ältesten und größten Industrieregion der USA, sondern mit deutschen Kernbranchen, und das weltweit.
Die Automobilbranche ist zentral für Deutschlands Selbstverständnis und für seine wirtschaftliche Stärke. Noch 2016 und 2017 exportierte Deutschland jeweils rund 4,5 Millionen Fahrzeuge und importierte etwa 2,5 Millionen – China nach wie vor nur eine Million. Daraus ergaben sich Nettoexporte von über zwei Millionen Fahrzeugen jährlich, und zwar überwiegend im Premiumsegment. Doch die Lage hat sich dramatisch verändert: Deutschlands Nettoautoexporte sind seit dem Vorkrisenhoch der Corona-Pandemie um mehr als die Hälfte eingebrochen. Zugleich stiegen Chinas Nettoexporte von null auf fünf Millionen Fahrzeuge jährlich – viele davon höherwertig und damit direkte Konkurrenten deutscher Hersteller. 2024 exportierte China netto viermal so viele Autos wie Deutschland – ein symbolträchtiger Kipppunkt.
Dieser Wandel trifft nicht nur die Hersteller, sondern auch die gesamte Zulieferindustrie – in Tschechien, der Slowakei oder Italien. Europas einst führende Automobilregion verliert massiv an Marktanteilen – ein Trend, der ohne Gegenstrategie schwer umkehrbar sein wird.
Nachfrageschock durch Rückzug der USA
Die negative Dynamik, die im Automobilsektor bereits sichtbar ist, zeigt sich zunehmend auch im Maschinenbau, in der Luftfahrt und bei Klimatechnologien – den zentralen Pfeilern der deutschen Industrie. Auf dem Sektor der zivilen Luftfahrt ist der Druck bislang geringer, doch auch hier bleibt Deutschland nicht verschont. Das erste vollständig in der Volksrepublik China entwickelte Verkehrsflugzeug Comac C919, das stark an einen Airbus erinnert, ist eine reale Herausforderung. Gravierender noch: Comac greift damit auch direkt auf die umfangreiche deutsche Zulieferbasis zu. Was heute randständig wirkt, kann in wenigen Jahren wie zuvor im Automobilsektor zu einer ernsten Bedrohung werden.
Im Cleantech-Bereich ist die Entwicklung bereits fortgeschritten: Bei rund 200 grünen Schlüsseltechnologien – von Windturbinen über Batterien bis zu Solarkomponenten – zeigen sich dieselben Muster wie bei Konsumgütern und Fahrzeugen. China reduziert Importe rapide, während die Exporte explosionsartig steigen – ein fundamentaler Unterschied zu anderen großen Volkswirtschaften. Diese Entwicklung ist eine existenzielle Bedrohung für das deutsche Wirtschaftsmodell und keineswegs nur eine sektorale Schwäche. In den letzten 25 Jahren waren vor allem exportorientierte Industrien die Wachstumsträger. Wenn diese Säulen wegbrechen, droht eine Deindustrialisierung mit weitreichenden Folgen für Wohlstand, Beschäftigung und regionale Stabilität.
Die zweite Trump-Regierung bedeutet für Deutschland nicht nur außenpolitisch eine Zäsur, sondern auch ökonomisch einen massiven Nachfrageschock. Seit Inkrafttreten des Inflation Reduction Act (IRA) profitierten deutsche Unternehmen stark von der grünen Transformation in den USA – insbesondere in den Bereichen Elektromobilität und Windkraft. Dank eines steuervergünstigten Leasingmodells konnten auch in Europa produzierte E-Fahrzeuge von US-Subventionen profitieren, etwa von BMW und Mercedes. Auch Siemens Energy und die Windkraftkonzerne Vestas und Ørsted zählten zu den Gewinnern des US-Ausbaus erneuerbarer Energien. Zwischen 2020 und 2023 stiegen die europäischen Exporte klimafreundlicher Technologien in die USA von dreißig auf 47 Milliarden Euro.
Doch nun droht der Rückbau: Donald Trump will zentrale IRA-Instrumente streichen und Zölle auf Industriegüter der Europäischen Union erheben – darunter auf Fahrzeuge, Halbleiter und Maschinen. Damit bricht ein wachsender Markt weg, der zuletzt die Auswirkungen des China-Schocks teilweise abgefedert hatte. 2023 überholten die USA China erstmals als Deutschlands wichtigsten Handelspartner. Mit Trumps Kurswechsel entfällt damit nicht nur ein geopolitischer Anker, sondern auch einer der wenigen externen Wachstumskanäle für die Industrie.
Der zweite China-Schock – vier Antworten
Die Lösung liegt in der Erschließung anderer Märkte – und vor allem in der Schaffung neuer Nachfrage in Europa selbst. Auch wenn neue Freihandelsverträge – etwa mit den Mercosur-Staaten Südamerikas – wichtig sind, bleiben China und die USA als Volkswirtschaften so groß, dass Europa sich nicht nur auf neue externe Märkte verlassen kann. Folgende „Hebel“ sind zentral: eine kluge Handelspolitik, strategisch eingesetzte Subventionen, eine aktivierte Binnennachfrage und eine außenwirtschaftliche Neupositionierung in den internationalen Institutionen.
Der erste Hebel betrifft die konsequente Nutzung europäischer Handelsschutzinstrumente gegenüber China. Chinas Industriepolitik basiert auf systematischer Marktverzerrung durch großzügige Subventionen, gelenkter Kreditvergabe, geschützten Heimatmärkten und strategischer Exportförderung. Die Europäische Union verfügt über die rechtlichen Werkzeuge, um darauf zu reagieren. Die Strafzölle auf chinesische Elektrofahrzeuge sind ein Präzedenzfall: Sie zeigen, dass der Industriepolitik Chinas WTO-konform begegnet werden kann – wenn der politische Wille vorhanden ist. Deutschland sollte diesen Kurs nicht länger blockieren, wie es Bundeskanzler Olaf Scholz auf Druck der Automobilindustrie getan hat, sondern aktiv mitgestalten. Es geht nicht um Protektionismus, sondern um das Überleben funktionierender, wettbewerbsfähiger Sektoren.
Der zweite Hebel liegt in der strategischen Nutzung von Subventionen. Deutschland und andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union investieren zunehmend in nationale Programme für Zukunftsbranchen wie Elektromobilität, Halbleiter oder Wasserstoff. Doch oftmals fehlt es an Koordination – und an strategischer Zielbindung. Statt pauschal zu fördern, sind Auflagen notwendig, die die europäischen Produktionskapazitäten stärken. Das heißt nicht zwingend, Buy European-Klauseln – sondern intelligente Kriterien anzulegen, wie im französischen Förderprogramm für E-Fahrzeuge, das Modelle mit hohen CO₂-Emissionen oder langen Transportwegen ausschließt. Doch dieser nationale Alleingang hat Nebenwirkungen: Große Fahrzeuge sind grundsätzlich ausgeschlossen, was viele deutsche Modelle betrifft. Um innereuropäische Spannungen zu vermeiden, ist eine deutsch-französische Verständigung über gemeinsame Förderkriterien notwendig. Ein zentrales Instrument dafür sind die europäischen Beihilferegeln. Sie könnten sicherstellen, dass nationale Subventionen kompatibel bleiben und den europäischen Binnenmarkt offenhalten, statt ihn durch fragmentierte Industriepolitik zu zersplittern.
Ein dritter Hebel ist die Stärkung der Binnennachfrage. Ohne höheren privaten Konsum und gezielte Investitionen wird Deutschland weder Chinas Überproduktion abfedern noch eigene Marktanteile halten können – schon gar nicht in Drittmärkten, deren Regeln es nicht selbst setzt. Die Reform der Schuldenbremse und das Investitionspaket der Bundesregierung schaffen fiskalischen Spielraum von rund einer Billion Euro für Infrastruktur, Verteidigung und industrielle Transformation. Dieser Spielraum muss jetzt genutzt werden, um die industrielle Basis Europas zu sichern.
Dabei lohnt der Blick auf das Fundament der Produktivität. In den USA treiben digitale Technologien das Wachstum. In Europa dagegen tragen Mid-Tech-Sektoren wie Maschinenbau und Fahrzeugindustrie die Produktivität. Seit 2012 zählen sie in den fünf größten Eurozonen-Ländern durchgehend zu den zehn produktivsten Branchen. Wer diese Basis verliert, verliert nicht nur Industriearbeitsplätze, sondern auch fiskalische Tragfähigkeit und strategische Autonomie.
Der vierte Hebel ist eine außenwirtschaftliche Neupositionierung Deutschlands – im Schulterschluss mit internationalen Partnern. Deutschland steht mit seinen Sorgen über Chinas Wachstums- und Handelsmodell nicht allein. Partner sind Frankreich, die USA und andere G7-Staaten. Aber auch Länder wie Brasilien und die Türkei haben bereits Maßnahmen gegen chinesische Überkapazitäten ergriffen – etwa durch eigene Zölle auf Elektrofahrzeuge. Diese Gemeinsamkeiten sollte Deutschland strategisch nutzen – im Internationalen Währungsfonds, in der G20 und in multilateralen Handelsforen.
Ein einfacher erster Schritt wäre, darauf zu bestehen, dass der Internationale Währungsfonds seine Analysen auf belastbare Zahlen stützt. Chinas offizielle Leistungsbilanzdaten unterschätzen das wahre Ausmaß seiner Handelsüberschüsse systematisch, etwa durch die Umdeutung von Exportwerten oder die Einbeziehung von Inlandsverkäufen ausländischer Firmen in das eigene Defizit. Diese systematische Verzerrung schwächt die internationale Diagnosefähigkeit und führt zu falschen wirtschaftspolitischen Empfehlungen. Deutschland, das sich stets zur regelbasierten multilateralen Ordnung bekannt hat, darf dazu nicht länger schweigen.
Aktive Verteidigung der industriellen Basis
Chinas Handelsüberschüsse übertreffen inzwischen nicht nur die der Eurozone, sondern auch die Deutschlands bei Weitem. Laut Zolldaten liegt Chinas Warenhandelsüberschuss bei rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts – ein außergewöhnlich hoher Wert für eine Volkswirtschaft dieser Größe. Im globalen Maßstab ist China der dominante Treiber makroökonomischer Ungleichgewichte – nicht Europa.
Deutschland war beim ersten China-Schock durch seine komplementäre Rolle weitgehend geschützt. Hinzu kamen Sondereffekte der 2000er-Jahre: Lohnzurückhaltung und die kostensenkende Verlagerung von Lieferketten nach Mittel- und Osteuropa schufen eine wettbewerbsfähige Exportindustrie, die von der chinesischen und US-amerikanischen Nachfrage nach Maschinen profitierte. Heute ist das Gegenteil der Fall: Chinas Wirtschaft ist größer, produziert die gleichen Güter – und drängt mit subventionierter Überproduktion auf globale Märkte. Der zweite China-Schock ist real – und er trifft Deutschland ins industrielle Herz. Doch er ist kein Schicksal.
Europa bringt die notwendige Stärke mit. In Stahl-, Fahrzeug-, Schiffs- und Luftfahrtproduktion übertrifft Europa – angeführt von Deutschland – die USA deutlich. Besonders im Bereich grüner Technologien ist Deutschland kein Nachzügler, sondern das Cleantech-Kraftzentrum Europas. Die Exporte klimafreundlicher Technologien machen inzwischen vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus – mehr als in jedem anderen G7-Land einschließlich China. Auch bei Elektrofahrzeugen liegt Deutschland weltweit an zweiter Stelle – hinter China.
Europa sollte seinen Spielraum jetzt nutzen, um seine industrielle Basis aktiver zu verteidigen. Die eigentliche Bedrohung für Deutschlands Industrie war nie Washington, sondern immer Peking. Die Europäische Union steht nun vor der Gefahr, weit mehr Industriearbeitsplätze zu verlieren als die USA beim ersten China-Schock. Während die USA im Jahr 2000 rund siebzehn Millionen Industriearbeitsplätze zählten, sind es in der Europäischen Union heute etwa dreißig Millionen. Die Antwort darauf ist nicht Deregulierung oder Abwarten, sondern: aktive Industriepolitik, robuste Handelspolitik und gezielte europäische Nachfrage. Der kräftige Aufschwung europäischer Rüstungsaktien in den vergangenen zwei Jahren ist ein klares Signal dafür, dass gezielte staatliche Nachfrage privates Kapital mobilisieren kann – auch im zivilen Bereich.
Eine starke industrielle Basis ist Voraussetzung dafür, dass Europa seine Verteidigungsfähigkeit ausbauen und eigene Rüstungs- und Schlüsseltechnologien unabhängig sichern kann. Wer sich in zentralen Bereichen der Produktion von autoritären Staaten abhängig macht, verliert nicht nur wirtschaftliche Stärke – sondern auch strategische Autonomie.
Sander Tordoir, geboren 1989 in Naarden (Niederlande), Chief Economist, Centre for European Reform, London / Brüssel / Berlin.